Georg Franck: Im blinden Fleck der Theorie

 

«Es wäre eigenartig, wenn eine Gesellschaft, die der Attraktivität frönt, nicht auch der Neugier huldigen würde. Neugier und das Verlangen nach Zuwendung sind Geschwister: Sie sind die beiden freischwebenden Arten des Begehrens. Sie werden wie leibliche Bedürfnisse verspürt, haben sich aber vom physischen Anlass des Begehrens emanzipiert. Sie beschäftigen die Aufmerksamkeit ohne konkreten Anlass. Die Lust auf Neues und das Verlangen nach Zuwendung sind unermüdliche Antriebe zur Findigkeit. Gemeinsam ist ihnen der ausgesprochen erotische Einschlag; beide führen zu deprivierenden Entzugserscheinungen, wenn sie nicht befriedigt werden. Die Erfüllung beider liegt aber ganz auf der psychischen – um nicht zu sagen, mentalen – Ebene.

Neugier und das Verlangen nach der Rolle im anderen Bewusstsein sind die Arten der Begehrlichkeit, die das Bewusstsein von sich aus entwickelt. Ihre Zeit ist gekommen, wenn für die leiblichen Bedürfnisse gesorgt ist. Ganz folgerecht sind sie es, die in der nachindustriellen Gesellschaft die Führungsrolle übernehmen. Die Wissensproduktion beerbt die einst dominierende Stellung der Schwerindustrie, an die Stelle des sozialen Stands und materiellen Reichtums tritt die öffentlich festgestellte Auffälligkeit. Folgerecht wird die nachindustrielle Gesellschaft als Wissensgesellschaft angesprochen, schlüssig auch, dass wir eine Hochblüte des inszenierten Auffallens und dicken Auftragens erleben. Die Wissenschaft beherrscht das Weltbild in der hochtechnisierten Zivilisation, der Kampf um die Aufmerksamkeit beherrscht deren Alltagskultur. Wir sind Zeugen einer förmlichen Explosion des Wissens und bekommen eine sprichwörtliche Flut Beachtung heischender Reize zu spüren.

Wissenschaft ist die systematisch veranstaltete, professionell betriebene und arbeitsteilig organisierte Befriedigung von Neugier. Aber nicht nur. Der Wissenschaftsbetrieb ist auch eine im industriellen Massstab organisierte Ökonomie der Wissen produzierenden Aufmerksamkeit. Die wichtigsten Produktionsmittel der Wissenschaft sind vorproduziertes Wissen und lebendige Aufmerksamkeit. Da vorproduziertes Wissen wiederum aus vorproduziertem Wissen und lebendiger Aufmerksamkeit entstand, ist es letztlich immer Aufmerksamkeit, die Wissen produziert. Die Aufmerksamkeit, die Wissen produziert, ist nun aber nicht begehrt, sondern knapp. Sie wird nicht zwischenmenschlich zugewendet, sondern sachlich verwendet. Sie leistet zunächst einmal Arbeit und geht nur unter bestimmten Umständen in eine Form des Einkommens für andere über.

Ganz anders die Aufmerksamkeit, deren Attraktion die Alltagskultur beherrscht. Sie ist begehrt als Einkommen. Aber sie ist begehrt nicht, weil man anderer Leute Arbeit damit kaufen könnte, sondern weil sie Zugang zu anderen Erlebnissphären verschafft. Um der Rolle willen, die die eigenen Person im anderen Bewusstsein spielt, inszenieren wir die hohe Kultur der Attraktivität. Weil unser gesellschaftliches Leben auf der Bühne des anderen Bewusstseins spielt, sind Kleiderordnung, Aufmachung und die Pflege von Figur und Frisur so wichtig. Wie im Theater werden die Auftritte, auf die es ankommt, sorgsam einstudiert und wird aller nur erdenkliche Aufwand getrieben, um den richtigen Eindruck zu machen. Was neu am Zeitstil dieses Aufwands ist, ist die Professionalität und hohe Technologie der Zulieferindustrien. Mode und Kosmetik versprechen, massenhaft solche Produkte zu liefern, die einfach unwiderstehlich machen. Die Technologien der Herstellung von Attraktivität stecken hinter dem Design der Konsumgüter und brillieren in der Werbung. Die hoch technische Zivilisation ist hoch technisiert nicht nur, was die Techniken maschineller und organisatorischer Art, sondern auch, was die Technologien betrifft, mit denen Aufmerksamkeit erregt und eingefahren wird.

In der hochtechnisierten Zivilisation erlebt die Aufmerksamkeit jedoch auch in ihrer Eigenschaft als Produktionsfaktor einen historisch beispiellosen Aufschwung. Als Produktionsfaktor ist die lebendige Aufmerksamkeit eine knappe Ressource und heisst geistige Arbeit. Der Anteil der geistigen Arbeit am Sozialprodukt hat den der körperlichen in allen entwickelten Volkswirtschaften inzwischen weit überrundet. Die Aufmerksamkeit ist hier zur generell wichtigsten Quelle der Wertschöpfung geworden. Eigenartigerweise spielt sie aber so gut wie keine Rolle in der Wissenschaft von der Ökonomie. Aufmerksamkeit ist keine Kategorie der ökonomischen Theorie. Dort ist zwar viel von Entmaterialisierung, Informatisierung und Virtualisierung die Rede, die zentrale Ressource der Informationsverarbeitung kommt aber nicht zu Sprache.

Auch in ihrer Eigenschaft als Einkommen kommt die Aufmerksamkeit in der theoretischen Ökonomie nicht vor. Nicht, dass nur geldwerte Einkommen zählen würden. Es finden auch psychische Formen des Einkommens Berücksichtigung. Es fehlt aber die systematische Betrachtung des Tauschs an Beachtung und der Einnahmen an Aufmerksamkeit. Weder als knappe Ressource noch als begehrtes Einkommen ist Aufmerksamkeit eine Kategorie der ökonomischen Theorie. Und wer nun glaubt, dieses Versäumnis werde in den weniger technischen Disziplinen der Sozialwissenschaft korrigiert, wird noch einmal enttäuscht. Im grossen und ganzen wird man in der Literatur zur nachindustriellen Gesellschaft unter dem Stichwort Aufmerksamkeit vergeblich suchen.

Nur dort, wo es intellektuell weniger anspruchsvoll zugeht, ist der organisierte Kampf um die Aufmerksamkeit das grosse Thema. Der Blätterwald und das Fernsehen stehen im Bann des Reichtums der Beachtung. Nicht interessiert die Massenmedien so sehr wie der Rummel um die bekannten Gesichter und die Kurswerte der Prominenz. Je schillernder das Genre, umso ausschliesslicher wird das Medium zur Stätte des Kults um die Attraktivität. Es ist die Regenbogenpresse, die das Hochamt dieses Kults zelebriert. Diesem Kult meint die ernsthaft Intellektualität nur heimlich beiwohnen zu dürfen. Natürlich ist auch sie von der Macht der Eitelkeit und von der Gier nach Publizität getrieben. Reden darüber dürfen aber nur die Klatschspalten, nicht die Wissenschaft.

So nimmt den auch die Wissenschaftstheorie das Wort Aufmerksamkeit nicht in den Mund. Alle wissen zwar, welche Rolle die Eitelkeit in der Wissenschaft spielt. Vom Wunsch, Aufsehen zu erregen, ist aber höchstens als verpöntes Laster die Rede. Dass es für die Leistungsfähigkeit des Forschungsbetriebes vielleicht entscheidend sein könnte, dass Wissenschaftler nicht nur aus Neugier forschen, sondern auch für den Lohn der Beachtung arbeiten, kommt nicht in den Sinn. Nicht einmal als produktive Ressource findet die Aufmerksamkeit Erwähnung. Die Abstinenz geht sogar so weit, dass sich die Wissenschaftstheorie nicht für Denkökonomie interessiert. So vorrangig es für das konkrete Forschen ist, mit der knappen Aufmerksamkeit hauszuhalten und ihren Wirkungsgrad zu optimieren, so stiefmütterlich wird diese Ökonomie von der Theorie der Wissenschaft behandelt.

Der erste und einzige Ansatz einer systematischen Ökonomik des Denkens ist die Wissenschaftslehre Ernst Machs geblieben. Sie ist inzwischen über hundert Jahre alt. Mach erblickte das entscheidende Steigerungsprinzip der Reichweite und analytischen Schärfe des Denkens in der Ökonomisierung aufmerksamer Energie. Wissenschaft bedeutet für ihn den Übergang von handwerklichen zu industriellen Verfahren der Wissensproduktion. Wissenschaftliche unterscheidet sich von der vorwissenschaftlichen Forschung durch den bewussten Umgang mit den natürlich bemessenen Kräften, durch das Vermeiden alles Überflüssigen, durch die Zerlegung grosser Operationen in kleine Schritte, von denen mindestens ein Teil mechanisierbar ist. Wiewohl es diese Art Rationalisierung war, die in der Zeit seit Mach noch einmal eine dramatische Steigerung erfuhr, fand Machs Wissenschaftslehre keine Resonanz. So folgenreich Machs Vordenken der nachklassischen Physik wurde, so folgenlos blieb seine Vorstudie zur Denkökonomik.

Wie kommt es zu diesem eigenartigen Schielen des wissenschaftlichen Blicks? Warum ist die beruflich neugierige Aufmerksamkeit so desinteressiert an sich selbst? Nun, das Phänomen des aufmerksamen da Seins ist das Ärgernis der wissenschaftlichen Objektivität. Es gelingt einfach nicht, diesem Phänomen mit den Mitteln objektivierender Erkenntnis beizukommen. Es ist in seinem Wesen subjektiv. Es hat keine vom erlebenden Subjekt unabhängige Existenz und keine Wirklichkeit, die empirisch oder logisch zwingend nachgewiesen werden könnte.

Die Aufmerksamkeit ist so schwer zu fassen, wie sie unabdingbar für das bewusste Erleben. Wir wissen nicht, wie es zum Phänomen des geistesgegenwärtigen da Seins kommt. Wir wissen zwar manches über Bedingungen, die notwendig sind, um das Phänomen hervorzubringen. Wir wissen aber nicht, wie es kommt, dass unser Nervensystem, statt nur Informationen zu verarbeiten, auch subjektives Erleben erzeugt. Mit nichts tut sich die Wissenschaft so schwer wie mit diesem Erleben. Die Frustration geht so weit, dass es lange Zeit zum guten Ton in der Wissenschaft gehörte, das Phänomen als subjektive «Illusion» abzutun.

Tatsächlich sind die Nervensysteme erlebender Wesen die eigenartigsten Objekte, die es gibt. Sie präsentieren sich völlig unterschiedlich je danach, ob sie aus der Perspektive der dritten Person untersucht oder in der Perspektive der ersten Person erlebt werden. Aus der Perspektive der dritten Person stellen sie eine anatomische Struktur mit physiologischer Funktion, ein Konglomerat von chemischen und physikalischen Prozessen dar, deren herausragende Fähigkeit die Verarbeitung von Information ist. In der Perspektive der ersten, also derjenigen Person, die das Nervensystem ist, erscheint eine Welt, die aus Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Vorstellungen besteht, und deren sinnlich Präsenz gerade nicht auf den Aspekt der Informationsverarbeitung reduziert werden kann. Aus der Sicht der dritten Person ist das Nervensystem ein biologischer Computer. Aus der Sicht der ersten Person ist es das Zentrum einer in sinnlichen Qualitäten und als bedeutsam erlebten Welt.»[1]

 

 

 

 

[1]  Georg Franck: Im blinden Fleck der Theorie; in: Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Edition Akzente. Hrsg. von Michael Krüger; München, Wien: Hanser Verlag, 1998; Seite 11-16.



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