Jonas Pfister: Lesen

 

«Wer tiefer in die Philosophie vordringen will, muss klassische philosophische Texte lesen, das heisst Texte, die für die Philosophiegeschichte wichtig sind, unabhängig davon, wann sie geschrieben wurden. Der erste Grund liegt darin, dass solche Texte Philosophen eine gemeinsame Fachterminologie und viele Musterbeispiel für Argumente liefern.


Der zweite Grund liegt darin, dass philosophischer Fortschritt in der Regel auf der Auseinandersetzung mit den Positionen und Argumenten anderer aufbaut. Was es bedeutet, einen Text genau zu lesen, und wie man dabei vorgehen kann, wird in diesem Kapitel gezeigt.

Sechs Stufen des Lesens

Lesen ist eine Tätigkeit, die ganz unterschiedlichen Zwecken dienen kann. Lesen wir einen philosophischen Text, so geht es in erster Linie um zweierlei, nämlich (1) um den Inhalt, um Thesen Positionen und Argumente. Wir wollen wissen, was der Autor behauptet, und wir wollen wissen, wie er dafür argumentiert. Es geht (2) um die Beurteilung des Inhalts. Wir wollen auch wissen, ob die Thesen wahr und die Argumente gut sind. Der amerikanische Philosoph Jay F. Rosenberg (1942–2008) schlägt in seinem hervorragenden Einführungsbuch Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger[1] sechs Möglichkeiten vor, wie man einen philosophischen Text lesen kann. Dementsprechend lassen sich sechs Stufen des Lesens voneinander unterscheiden:

1.  Thesen: Welche Thesen vertritt der Autor?

2.  Argumente: Mit welchen Argumenten begründet der Autor seine Thesen?

3.  Dialektischer Zusammenhang: In welchem externen Diskussionszusammenhang stehen diese Thesen und Argumente? Von welchen Fragen und welchen bestehenden Antworten geht der Autor aus? Wie formuliert er die Fragen? Welche neuen Fragen formuliert er?

4.  Beurteilung: Sind die Thesen wahr oder zumindest plausibel? Sind die Argumente gut?

5.  Entscheidung: Wie ist die vom Autor vorgeschlagene Lösung eines Problems im Diskussionszusammenhang zu beurteilen?

6.  Kreative Entwicklung: Wie kann man das Problem zu seinem eigenen machen und eine Lösung formulieren, die über das Bestehende hinausgeht?

Die letzten Stufen können sehr anspruchsvoll werden. Zunächst muss man sich sicherlich auf die ersten zwei Stufen konzentrieren, auf den die anderen vier Stufen dann aber aufbauen. Wie kann man dabei vorgehen?

Es gibt nicht nur eine mögliche Vorgehensweise, es gibt jedoch solche, die geeigneter als andere sind. Aus der Psychologie ist bekannt, dass unter anderem die folgenden zwei Faktoren die Lesekompetenz beeinflussen, nämlich das Hintergrundwissen und der Einsatz von sogenannten metakognitiven Lesestrategien, das heisst Reflexion des Lesens während des Lesens.

Es ist sinnvoll, das Lesen in drei Phasen einzuteilen: Lesevorbereitung, schnelles Lesen und genaues Lesen.

1.  Lesevorbereitung
• Ziel: Eine Grundidee davon bekommen, worum es im Text geht.
• Vorgehen: Man sollte den Titel, die Zwischentitel, die Fussnoten, die Bibliographie anschauen und das Abstract, die Einleitung oder den Schluss lesen sowie die folgenden Fragen beantworten: Wer ist der Autor? Wann und wo? Ist der Text erschienen? Was ist die Textsorte (handelt es sich zum Beispiel um ein Einführungsbuch oder einen Forschungsartikel)? Wozu dienen die Fussnoten, der Quellenangabe oder der Argumentation? (Je nach Antwort muss man sie während des Lesens des Textes beachten oder nicht.) Was ist das Thema? Und eventuell bereits auch die Frage: Wie lauten die Hauptthesen?

2.  Schnelles Lesen
• Ziel: Ein Grundverständnis des Textes zu entwickeln.
• Vorgehen: Man sollte den ganzen Text einmal schnell lesen und sich dabei folgende Fragen beantworten: Was sind die Hauptthesen des Textes? (Es kann sein, dass die Beantwortung dieser Frage beim ersten schnellen Lesen noch nicht möglich ist; dann kann man zumindest einmal Stellen anstreichen, in denen eine These formuliert sein könnte.) Was ist die Struktur des Textes? Dabei sollte man Notizen am Rand zu Funktion und Inhalt von Abschnitten machen. Welche Stellen sind für die Argumentation wichtig? Versteht man die Bedeutung eines Wortes nicht, so kann man es in einem Konversationslexikon, einem Fremdwörterbuch oder einem Fachwörterbuch nachschlagen. Dabei ist jedoch zu beachten: Die Bedeutung, die in einem Lexikon angegeben ist, muss nicht der Bedeutung des Wortes im Text entsprechen. Je nach Kontext kann das Wort eine andere Bedeutung haben. Wichtig beim schnellen Lesen ist, sich nicht durch eine Unklarheit aufhalten zu lassen, sondern den ganzen Text von vorne bis hinten zu lesen.

3.  Genaues Lesen
• Ziel: Ein vertieftes Verständnis des Textes zu entwickeln, das heisst, die Argumentation in eigenen Worten wiedergeben zu können.
• Vorgehen: Man sollte den gesamten Text sehr genau lesen und dabei die eigenen Notizen auf der Seite korrigieren und ergänzen sowie sich auf einem eigenen Blatt Notizen machen. Im Anschluss sollte man eine Gliederung erstellen, ein Abstract schreiben und die einzelnen Argumente rekonstruieren.

Das Verstehen eines Textes ist ein spiralförmiger Prozess, der auch als «hermeneutischer Zirkel» bezeichnet wird. Man erfasst zunächst etwas vom Ganzen, untersucht dann die einzelnen Teile, fügt diese wieder zu einem Ganzen zusammen, geht dann wieder zu einzelnen Teilen und analysiert diese, um von diesen wieder zu einem besseren Verständnis des Ganzen zu gelangen. Auf diese Weise arbeitet man sich in die Tiefe eines Textes ein.»[2]

 

 

 


[1]  Jay F. Rosenberg: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 6/2006, Seite 154-159.
[2]  Jonas Pfister: Werkzeuge des Philosophierens. Reclams Universalbibliothek Nr. 19138; Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, 2/2015; Seite 198-201.



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