Klaus M. Leisinger: Die Kunst der verantwortungsvollen Führung

 

«Um den Kontext der Auseinandersetzung mit normativen Geboten im Geschäftsleben herzustellen, werden zunächst kurz die prinzipiellen Konturen des gegenwärtigen unternehmensethischen Diskurses skizziert.

I.3      «Ethik des geschäftlichen Tuns» als prinzipiengeleitetes Nachdenken über integres Handeln von Führungskräften

Die intellektuelle Auseinandersetzung über das, was verantwortungsvolles Gewinnstreben im globalen Wettbewerb sein soll, läuft weltweit seit vielen Jahren auf vielfältige Weise und mit unterschiedlichen Denkansätzen. Wichtige Denkanstösse kommen auch aus dem deutschsprachigen Raum. Bei der Umsetzung anerkannter Normen in gewinnorientiertes Handeln gibt es zwar, je nach ethischer Theorie, unterschiedliche Begriffe und Prioritäten – immer aber geht es um die Beantwortung der klassischen Fragen, die Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft stellte:[1]

• Was kann ich (als verantwortungsvolle Führungspersönlichkeit) wissen?
• Was soll ich tun?
• Was darf ich hoffen?

     Diese Fragen gelten auch und erst recht unter Zeitdruck, bei Ressourcenknappheit und internationalem Wettbewerbsdruck. Um sicherzustellen, dass gewinnorientiertes betriebliches Handeln eine möglichst hohe ethische Qualität hat, bzw. – als minima moralia – Unternehmensgewinne nicht unter Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen, irreparabler Kollateralschäden für heute und zukünftig lebende Menschen sowie für Natur- und Sozialkapital erzielt werden, ist Handeln auf (mindestens) zwei Ebenen erforderlich: auf der organisatorischen Ebene (Unternehmens- und Gouvernanz-Ethik) sowie auf der persönlichen Ebene der Mitarbeiter, insbesondere derjenigen mit Führungsverantwortung.
Die persönliche Dimension ist die wesentliche, denn auch die Struktur und Stringenz ethischer Erwägungen auf der organisatorischen Ebene wird von Menschen dominiert. Allerdings wird ein durch humanistische Ethik (die Frommsche Ethik) inspirierter Manager in einer Organisation, die seine Beweggründe und Anliegen durch entsprechende Anreiz- und Kontrollstrukturen unterstützt, grössere Breitenwirkung entfalten können. Daher zuerst ein paar Bemerkungen zum Sachverhalt Unternehmens- und Gouvernanz-Ethik.

I.3.1   Unternehmensethik: Die Organisation als moralischer Akteur

Unternehmen sind als Juristische Personen Träger einer Vielzahl von Rechten, Pflichten und Erwartungen. Sie werden, insbesondere in modernen Gesellschaften, aufgrund ihrer Fähigkeit, personelle (intellektuelle und moralische), finanzielle, technische und organisatorische Ressourcen zu aktivieren, zusammenzuführen und für das Erreichen der gesetzten Ziel einzusetzen, an einem anspruchsvollen Zurechnungsraster gemessen. So wie der Körper eines Menschen letztlich zwar aus der Vielzahl seiner Zellen zusammengesetzt ist und doch der Mensch unendlich viel mehr darstellt als die Summe der Eigenschaften seiner Körperzellen, verhält es sich auch mit Unternehmen und seinen Mitarbeitern.
Unternehmen sind in der Lage, simultan Verschiedenes mit gleicher Aufmerksamkeit zu tun. Sie können sich neben ihrem operativem Handeln z.B. auch an der Konstituierung, Modifizierung und diskursiven Begründung ihrer handlungsleitenden Normen beteiligen. Individuen wären damit überfordert, simultan Verschiedenes mit gleicher Aufmerksamkeit und Qualität zu tun.

     Eine wichtige Voraussetzung für ethisch akzeptables institutionelles Handeln ist, dass alle nur denkbaren organisatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen und Managementprozesse eingeführt werden, illegitimes Handeln als solches zu definieren und zu entmutigen. Konkret bedeutet dies, dass moralische Werte und normative Regeln in alle relevanten Führungsgrundsätze, Entscheidungs- und Managementprozesse eingebaut werden.
Beispiele dafür sind personenbezogene Handlungs- und Verhaltensrichtlinien für sensible Bereiche sowie normative und verantwortungssensitive Kriterien bei der Festlegung individueller Leistungsziele. Mitarbeiterbeurteilungen, Bonusfestlegungen und Beförderungskriterien sowie due diligence Prozesse bei Akquisitionen und Fusionen müssen entsprechend angereichert werden. Auf diese Weise wird für alle Mitarbeiter im Unternehmen, aber auch für die wichtigsten Zulieferer, erkennbar, welche der aus einer unendlichen Anzahl theoretisch möglichen Handlungsweisen im Unternehmen als legitim und erwünscht betrachtet werden und welche nicht.
Da «moralisch richtiges» Handeln über normativ angereicherte Beurteilungs- und Bonussysteme belohnt wird, bestehen Anreize, entsprechend zu handeln. Auf diese Weise wird Garret Hardins «Kardinalgesetz» Rechnung getragen: «Never ask a person to act against it’s own self-interest.» Die «Guten» sind bei richtigen Anreizsystemen nicht mehr die «Dummen».

     Den meisten Entscheidungen, die innerhalb einer Institution getroffen werden, wohnt zwar ein Element der Fremdbestimmung inne, weil Unternehmenskulturen, Firmenphilosophien oder Vorbilder handlungs- und verhaltensnormierend wirken. Menschen handeln im beruflichen Kontext häufig anders als im privaten. Erich Fromm würde dies auf psychische Reaktionsmuster aufgrund von Anpassungsleistungen zurückführen. Dennoch handelt eine Organisation niemals nur als abstrakte juristische Einheit, sondern immer durch die Vielzahl der auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen arbeitenden Menschen. Unternehmen können auch im Kontext der anstehenden Nachhaltigkeitsprobleme nur lernen, wenn Mitarbeiter auf allen Ebenen lernen.

     Es sind also nicht abstrakte Wirtschaftssysteme oder anonyme Kapitalgesellschaften, die über die moralische Qualität des erwünschten Handlungs- und Verhaltensportfolio eines Unternehmens entscheiden, sondern individuelle Menschen. Nur Menschen haben die Gabe der ethischen Reflexion und moralischen Vorstellungskraft, innerhalb der vorgegebenen Spielregeln mit integren und klugen Spielzügen erfolgreich zu sein. Soziale System wie «die Wirtschaft» oder Subsysteme wie «das Unternehmen» können per se nur begrenzt moralisch oder unmoralisch sein. Moralische Leistungen oder Moralversagen werden von Menschen, ihrer Persönlichkeit, ihren Wertorientierungen und ihrem Handeln und Verhalten in System hineingebracht. Damit sind wir bei den individuellen Menschen und ihrer «ethischen Musikalität».»[2]





[1]  Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden, Frankfurt: Suhrkamp, 1968; Werkausgabe Band IV, hrsg. von Wilhelm Weischedel: Kritik der reinen Vernunft 2; Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft stw 55, 1. Auflage 1974, Seite 677.
[2]  Klaus M. Leisinger: Die Kunst der verantwortungsvollen Führung. Vertrauen schaffendes Management im internationalen Business. Bern: Haupt, 2018, Seite 27-30.



Zur Übersicht

Weitere Beiträge

Aus der Bibliothek zur Lebenskunst

Das Leben ist manchmal, bildlich betrachtet, unwägbar wie das Meer. Passiert einem etwas Menschliches, Allzumenschliches, geht oft eine für sicher gehaltene Konstellation zu Bruch. Dann wirbeln Gefühl und Verstand durcheinander, dann ist das Leben heftig – wie das Meer vor einer felsigen Küste. - Die gedankliche Arbeit der philosophische Praxis hält gegen das an, indem sie ...

weiterlesen

Jonas Pfister: Lesen

«Wer tiefer in die Philosophie vordringen will, muss klassische philosophische Texte lesen, das heisst Texte, die für die Philosophiegeschichte wichtig sind, unabhängig davon, wann sie geschrieben wurden. Der erste Grund liegt darin, dass solche Texte Philosophen eine gemeinsame Fachterminologie und viele Musterbeispiel für Argumente liefern.

weiterlesen

Georg Franck: Im blinden Fleck der Theorie

«Es wäre eigenartig, wenn eine Gesellschaft, die der Attraktivität frönt, nicht auch der Neugier huldigen würde. Neugier und das Verlangen nach Zuwendung sind Geschwister: Sie sind die beiden freischwebenden Arten des Begehrens. Sie werden wie leibliche Bedürfnisse verspürt, haben sich aber vom physischen Anlass des Begehrens emanzipiert.

weiterlesen