Polyfonie in der Lebenswelt von heute

 

Für die Lebenswelt von heute meinungsbildend sind zum einen die «online»- und die Print-Ausgaben der Tages- und Wochenpresse, zum anderen die Radio- und TV-Nachrichten und -Magazine. Daneben bieten Verbände, Interessengemeinschaften, Think tanks, Firmen, kulturelle und zivilgesellschaftliche Institutionen, etc. ihre Newsletter an. Polyfon klingen die von diesen Inhalten und Aussagen angeschlagenen Saiten nach. Sehr verschieden sind die Themen, die die Aufmerksamkeit des «Experten», des «Mannes auf der Strasse» und des «gut informierten Bürgers»[1] beanspruchen. Wer kennt den Druck nicht, sie zwecks «Selbstoptimierung» zu lesen, sonst verlöre man ja den Anschluss. Selbstoptimierung ist aber nicht identisch mit Selbstbestimmung. Wer sich um diesen Unterschied foutiert, für den dürfte sinnvoll sein: «Mind the gap!».

●  Management & Leadership
Die Entfaltung während des 20. Jahrhunderts von Management als Arbeitsmethode, Organisationsform und Führungsprinzip geht einher mit der ständigen Integration von Erfahrungen und Erkenntnissen aus Projekt-, Prozess- und Organisationsteams, um Arbeitsprozesse sicher, verlustfrei und mit Gewinn zu organisieren. Geschäftsprozesse und Arbeitsorganisation implizieren Führung, und die Führungsverantwortung ist von ethischer Gravität. Unternehmensentscheide, so sehr rational, strategisch richtig und kostenbewusst hergeleitet, haben ein moralphilosophisches Ferment: Unternehmensentscheide basieren auf Werturteilen, also Bewertungen. Aber dies wird von der Trennungsthese, respektive durch die praktizierte Trennung von Moral und Ökonomie, neutralisiert. Im Geschäftsalltag hingegen ist der zwischenmenschliche Kontakt nicht frei von moralischen (Vor-)Urteilen.

●   Ökonomische Checks & balances
Viele sehen heute in der Zukunft mehr Bedrohung denn Verheissung. Die in Gang gekommene Automatisierung der Geschäftsprozesse werde in den nächsten Jahren jeden zweiten Arbeitsplatz vernichten, sagen die Vordenker des digitalen Fortschritts voraus. Wird über die Zukunft der Arbeit debattiert, taucht das Thema alter Träume auf, die künstliche Intelligenz, welche alles, was gebraucht wird, besser und günstiger als der Mensch bewerkstelligen könne. Ist diese Perspektive aber ethisch und sozialphilosophisch vertretbar, ist es opportun, den Markt allein technologische Innovationen und brisante Machtfragen regeln zu lassen?

Die Entwicklung in der Finanzwirtschaft, welche die öffentliche Aufmerksamkeit 2008 auf exorbitante Risiken und Bonus-Zahlungen gelenkt hat, desavouiert die Realwirtschaft, insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), welche die Wirtschaft in der Schweiz zu ca. 95% tragen. Wenn in der Finanzwirt­schaft ein Jahresergebnis nicht genügt, dann müsste aus dem Bonus auf das Salär des Verantwortlichen ein Malus werden. Das trifft so nicht zu – Double standards als Fazit zur Finanzwirtschaft?

●  Kulturelle (Re-)Produktion
Verglichen mit 1985, dann erscheint die «Neue Unübersichtlichkeit» von Habermas, ist die Welt 2017 sehr verändert. Die digitalen Medien haben sich unterdessen in der Geschäftswelt wie in der Lebenswelt verbreitet, und es ist eine Vielzahl von Möglichkeiten der Konsumtion, Zerstreuung und Welterklärung angeboten. Peter Gross greift dies 1994 mit «Multioptionsgesellschaft» auf. Extrinsische Anreize sind en vogue, aber auch Gegenbewegungen hin zu einer inspirierten, qualitätsbewussten, urbanen Masshaltigkeit.

●  Algorithmus, künstliche Intelligenz, Robotik
Es wird schier ignoriert, dass mit der digitalen Rationalität erhebliche Folgenabschätzungen fällig wären. Die Hypes werden seitens Journalismus eher brav als unabänderliche, quasi gottgegebene Entwicklungen rapportiert. Die intuitiv bedrängenden Perspektiven, besonders der Anspruch des «Transhumanismus», müssten den Diskurs über die digitale Rationalität in den Bereichen Gesellschaft, Moral, Recht, Wirtschaft und Bildung intensivieren, ja provozieren.

●  Überlast der Psychosomatik
Die Bedeutung der Kooperation und der Kommunikation für den Betriebsalltag ist offensichtlich. In der Arbeitswelt sind Vertrauen und Verbindlichkeit allerdings auch aufwändig – und sie werden neurotisch, ja narzissistisch bedingt, unterlaufen. Kooperation und Kommunikation als Entwicklungsaufgaben werden von Geschäftsleitungen zuweilen bewusst ignoriert. Dieser Aufwand koste ja nur und zahle sich nicht aus... Ganz anders, mit einem positiven internen Echo, sind jene Konzerne unterwegs, die das Achtsamkeitstraining der Führungskräfte und die Transformation zum agilen Unternehmen in ihr Business Development integriert haben.

Die akzelerierten Usanzen an den Märkten und bei Bauprojekten halten die daran Beteiligten unerbittlich auf Trab, bis zum Mehr-geht-nicht-mehr. Die psychosomatischen Erkrankungen in Unternehmen weisen eine zunehmende Tendenz aus. Damit die Mitarbeiter bei Interaktion und Dokumentensicherung sicher handeln, haben Firmenleitungen Guide lines zum Gebrauch von E-Mail, Internet, Social media und Dokumenten-Management-System eingeführt. Das ist eine zum Abbau von Hektik komplementäre Massnahme, doch Projektziele wie auch Termine bleiben gesetzt.

Für Unternehmen scheinen die grössten Probleme weder technologischer noch finanzieller Art, sondern psychologischer, sozialer und soziologischer Natur zu sein. Manager geben unumwunden zu, dass Probleme mit Mitarbeitern für sie eine grössere Schwierigkeit darstellen als technische oder betriebswirtschaftliche Probleme. Allerdings, wie Menschen zusammenarbeitend Probleme lösen, ist entscheidend dafür, ob sie in nützlicher Frist auf einen grünen Zweig kommen und Entscheide wirksam umsetzen. Wie ein Manager dazu motiviert, bestimmen sein Selbstverständnis und seine (Gemüts-)Bildung.

●  Postulat des Klimawandels
Der Verbrauch fossiler Energieträger heizt das Erdklima auf. Die bisher emittierten Treibhausgase dürften weltweit einen Temperaturanstieg um etwa 1.5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zur Folge haben. Der Klimawandel tut not, er wird zur Signatur der Welt im 21. Jahrhundert werden. Seine globale Bewältigung ist eine holistische Herausforderung, auch wenn die aktuellen Anstrengungen über die Debatte hinaus gelangen. Auf das individuelle Handeln und Verhalten in der Lebenswelt kommt es an – die Umwelt-Enzyklika des Papstes hat dazu 2015 einen unübersehbaren Impuls zu Konsumtion und Ökologie gesetzt.

●  Neuro sciences-Forschung
Kann man eine geistige Erfahrung auf Hirnregionen, Konnektivität, Neurochemie reduzieren? Vermutlich nicht, ohne dass man rigoros vereinfacht. Wenn man einen Roman liest, z.B. ein sehr emotionales Werk, dann werden Areale des Gehirns aktiviert, die Emotionen verarbeiten. Aber dieselben Areale würden auch von einem reisserischen Roman oder von einer kitschigen Fernsehserie aktiviert. Wie lässt sich das eine vom anderen unterscheiden? Kann der Kernspintomograf dies schlüssig beantworten, oder etwa sogar die Frage «Neuro science, cui bono?»

●  Digitale Medien, analoge Folgen
Internet, TV und Telematik (Smartphone) bieten eine Bequemlichkeit und eine Effizienz, der Hinz und Kunz kaum widerstehen. Ein «online»-Schuhkauf ist dafür symptomatisch, kannibalisiert jedoch die eigenen Läden des Anbieters, und ist doch bereits Usus.

Zum Alltagsgebrauch der Social media und zu ihren Sozietäten ist anzumerken, wie häufig sich Users mit Gehässigkeit oder Kitsch innerhalb ihrer Community decouvrieren; ihnen fehlt es an der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung und folglich an der Abschätzung von Ursache und Wirkung. Digitale Medien versimplifizieren kommunikative und ästhetische Werte. Die Social media-Konzerne haben fulminante Geschäftserfolge und hegen globale Geltungsansprüche. Sind das neue Allmachtsfantasien?

Apropos Internet drängt sich neuerdings die Frage auf, ob es sich problematisch gewandelt hat, von einem mächtigen Tool der persönlichen Informationsbeschaffung zu einem Werkzeug der Überwachung? Das Geschäft mit digitalen Daten nützt die weitverbreitete individuelle Nonchalance beim Gebrauch der Social media radikal, doch zu wessen Vorteil? Der Cyber war um politische Beeinflussung wie auch das Hacking in digitalen Netzwerken «produzieren» eigentlich was? Neue, brisante, unbewältigte Machtfragen.



© Lic. phil. Hans-Peter Fleury, 2017

 

[1]  «Die drei (..) Idealtypen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bereitschaft, Dinge als fraglos gegeben hinzunehmen.» Zitiert aus: Alfred Schütz: Der gut informierte Bürger. Gesammelte Aufsätze, Band II; Den Haag (Nijhoff) 1971-1972, S. 85



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